Die Stimme
Von Reinhard Grossmann
Jetzt habe ich endlich verstanden, warum Herr Ricksen, Inhaber der Firma Markundpfennig, mich ohne Umstand und ohne langes Gespräch eingestellt hat, als ich mich vor fünf Wochen bei ihm vorstellte. Ich hatte fest damit gerechnet, dass es wieder ein vergeblicher Bersuch sein würde. Wer braucht schon einen abgetakelten Opernsänger? Aber da mir die Mitarbeiterin der Arbeitsagentur, die für mich zuständig war, die Adresse hingeschoben hatte, musste ich den Versuch machen, wenn ich meinen Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht verlieren wollte.
Ich stellte mich also zur angegebenen Zeit im Büro von Markundpfennig ein. Bis heute habe ich den Geschäftszweck dieser Firma nicht begriffen. Als ich einmal einen Mitarbeiter danach fragte, sagte er: „Wir kaufen und verkaufen alles, was sich verkaufen und kaufen lässt.“ Das war keine sehr aufschlussreiche Auskunft. Aber solange ich meinen freilich nicht sehr üppigen Lohn erhielt, konnte mir ja auch egal sein, wofür ich ihn bekam.
Ich saß an einem alten Schreibtisch, dessen Schubfächer klemmten und sich nur mit Mühe öffnen ließen. Aber da sie ohnehin leer waren, machte das nichts. Der Chef packte mir einen unordentlichen Stoß Papier auf meinen Platz und ließ mich die Endsummen der Rechnungen zusammenstellen, getrennt nach Verkäufen und Käufen, also nach Einnahmen und Ausgaben. Am Ende stellte sich heraus, dass die Firma im letzten Jahr genau 732 Euro und 83 Cent mehr ausgegeben als eingenommen hatte.
„Das kann ja nicht so weitergehen“, sagte Herr Ricksen zu mir, als ich ihm die Abrechnung brachte. „Die Personalkosten sind zu hoch. Wir müssen ein paar Leuten kündigen.“ Am nächsten Tag brachte er eine Liste mit fünf Namen in mein kleines Büro. Herr Schulze-Wanke, Frau Müller-Siebendeich, Frau Gratzke, Frau Stempeisen und Herr Hampke-Steensen. Die halbe Belegschaft. „Schreiben Sie an die Kollegen eine offizielle Mitteilung über ihre Kündigung. Hier ist ein Mustertext. Und dann übergeben Sie ihnen diese Briefe mit einem freundlichen Wort.“
Wie sollte ich eine Kündigung mit einem freundlichen Wort begleiten? „Hier ist Ihre ganz persönliche Kündigung“? Oder: „Herr Ricksen entlässt Sie nur ungern“? Oder: „Freuen Sie sich, Sie müssen nicht länger in diesem Laden rumsitzen“? Ich schrieb die Briefe und brachte sie dem Chef zur Unterschrift. Und dann ging ich von Büro zu Büro und teilte sie aus. Was ich sagte, weiß ich schon lange nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass keiner der Gekündigten sich beschwerte oder auf den Chef und die Firma schimpfte. Sie nahmen die Botschaft alle auf, als hätte ich ihnen zum Geburtstag gratuliert. Ich verstand das nicht.
„Es ist Ihre Stimme“, sagte Herr Ricksen, als ich ihm davon berichtete. „sie macht jede Hiobsbotschaft zur guten Nachricht“. Ich wollte das nicht glauben. „Machen wir den Test. Stellen Sie sich vor den Spiegel und teilen Sie sich mit, dass Sie gekündigt sind.“
Er hatte Recht.