Von der Kunst den Weg zu finden
Angelika O'Brien
Die Routenbeschreibung lag ausgedruckt auf dem Beifahrersitz meines Autos. Ein Navi besaß ich nicht und ich möchte auch nie eins haben. Die Sitze und der Innenraum waren sauber. Reifendruck und Ölstand waren geprüft. In den blank geputzten Scheiben spiegelte sich die Morgensonne.
Ich stieg ein, ließ den Wagen von der Auffahrt rollen und fuhr los. Der Weg über die Brücke, vorbei an den Häusern meiner Stadt war mir noch vertraut. Als ich beschleunigte und auf die Autobahn fuhr, war alles fremd.
Warum bin ich früher nie selbst gefahren? Warum hatte ich mich in all den Jahren davor gefürchtet, meine eigenen Hände ans Steuer zu legen? Ich weiß es nicht.
Meine erste lange Reise, allein und mit wenig Gepäck, führte in den Süden. Ohne Scheu sah ich den neuen Weg vor mir. Die nächsten Stunden würde ich damit zubringen, monströse Lastwagen, verschlafene Wohnmobile und schwächelnde Kleinwagen zu überholen. Ich allein bestimmte, ob ich schnell oder langsam fuhr. Musik und der Tritt auf das Gaspedal trieben mich vorwärts. Nichts hielt mich mehr auf. Ich fuhr durch fremde Städte, folgte dem Asphalt durch sanfte Täler. Atmete die kühle Luft über dem breiten Fluss, den ich überquerte. Tauchte in kühle Wälder ein und wieder auf, den weiten Himmel über mir. Ich sah Vögel über mir gleiten und stellte mir einen Augenblick lang vor, ein Falke zu sein, ich flog hoch. Als Falke sah ich mein Auto mit mir am Steuer in der gleißenden Sonne. Ich sah mich auf der lang geschwungenen Straße dahinjagen. Kräftige Flügelschläge ließen mich noch höher steigen, schwindelerregend war der Blick über die Welt da unten – an eine derartige Aussicht war ich nicht gewöhnt. Der Wind ließ mich hinauf- und wieder hinunterschweben. Ich glitt in weitem Bogen herab und landete an einem klaren Bach und trank das kühle Wasser. Dass ich mir beim Anblick einer Maus, die am Ufer durch das Gras schoss, vorstellte, sie zu fangen und zu verspeisen, ignorierte ich lieber. Ich flog wieder davon, fand die lange, gerade Straße und erspähte mein Auto.
Ich saß wieder am Steuer, blinkte und fuhr dort ab, wo das Schild einer Raststätte Kaffee und knusprige Brötchen versprach.
Mein Handy klingelte als ich die Raststätte erreichte. Ich fuhr langsamer, bog in einen der Parkplätze und hielt an.
„Wo bist du?“, fragte die Stimme.
„Nicht daheim.“, antwortete ich.
„Das ist mir nicht entgangen“, stellte die Stimme fest.
„Kommst du zurück?“, die Stimme wollte es ganz genau wissen.
„Ich komme zurück. Aber nicht zu dir“, sagte ich.
Ich will für eine Weile, wenn nicht gar für immer allein sein. Das sagte ich nicht, das dachte ich nur.
Kaffee und Brötchen schmeckten. Danach aß ich einen Apfel, während ich an den Parkbuchten entlangschlenderte und all die anderen Reisenden beobachtete.
Unbekümmert stieg ich in den Wagen und nahm wieder Geschwindigkeit auf. Ich dachte an nichts. Weil es nichts mehr gab, worüber ich nachdenken musste. Das lag hinter mir so wie der größte Teil der Strecke, die ich zu fahren hatte. Sie hatte so klein und überschaubar ausgesehen, als ich sie plante. Allmählich spürte ich ihr wahres Ausmaß.
Es war schon später Nachmittag.
Ich blinkte und verließ die Autobahn. Nur noch einige Kilometer über eine Landstraße, dann war ich am Ziel. Würde ich mich in der fremdem Stadt zurechtfinden? Musik aus dem Radio übertönte diesen Gedanken.
Im Straßenwirwarr des Zentrums fand ich überraschend schnell die kleine Pension. Ich hatte noch viel Zeit bis zum ersten Treffen mit der Freundin, die ich hier besuchte. Ein Glas Wein in der Kneipe gegenüber der Pension könnte nicht schaden. Die Tischchen, die dort draußen standen, sahen einladend aus.
Der Kellner brachte den Wein. Ich blinzelte in die Sonne, schloss die Augen und genoss das Leben.